Mehr Infos

Deep Dive: Usability Engineering File

Autor: Marvin Kolb

Lesedauer:

Apr 2023
Wir haben uns tief in das Thema Usability Engineering File eingearbeitet und sind für Sie mit allen wichtigen Infos zurückgekommen. In diesem Artikel erfahren Sie die Antworten auf die folgenden Fragen:

  • Was ist ein Usability Engineering File?
  • Was gehört in ein UEF?
  • Was sind Best Practices zur Erstellung eines Usability Engineering Files?
  • Wie prüfen Benannte Stellen Usability Engineering Files?
  • Wie zahlt ein Usability Engineering File auf die Arbeit des Risikomanagements ein?
  • Was sind die größten Herausforderungen bei der Erstellung eines Usability Engineering Files?

Viel Spaß beim Lesen!

 

Eine kurze Einleitung: Warum ist ein Usability Engineering so wichtig für die Medizinprodukteentwicklung?

Ein Usability Engineering File (UEF), in der IEC 62366-1 auch Gebrauchtauglichkeitsakte genannt, ist ein wichtiger Bestandteil der technischen Dokumentation von Medizinprodukten und damit essenziell für die Zulassung nach MDR in Europa. Es enthält alle Informationen und Ergebnisse, die während des Usability Engineering Prozesses gesammelt wurden, einschließlich der Analyse von Benutzeranforderungen, der Definition von Benutzerprofilen und -szenarien, der Durchführung von formativen und summativen Evaluationen und der Bewertung von Benutzerfeedback. Das UEF dient als Nachweis für die Einhaltung der Usability-Anforderungen und kann im Falle von regulatorischen Audits oder Produkthaftungsklagen als Nachweis für die Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts herangezogen werden.

Die IEC 62366-1 liefert die etwas kürzere Definition: „Sammlung von Aufzeichnungen und anderen Dokumenten, die während des Usability Engineering Prozess erstellst werden“ (Source: IEC 62366-1; 3.18)

 

Was gehört in ein Usability Engineering File?

Zusammengefasst gehört eine vollständige Dokumentation Ihrer Usability Engineering Tätigkeiten in das UEF. Im Detail sind das diese Punkte, die dokumentiert werden müssen:

  • Use Specification (IEC 62366-1:2021-08; Kapitel 5.1): Hierzu zählen die vorgesehene medizinische Indikation (Intended Medical Purpose), die vorgesehenen Nutzer (Intended User Profile), die vorgesehenen Patientengruppen (Intended Patient Population), die vorgesehene Nutzungsumgebung (Intended Use Environment), das vorgesehene Körperteil oder der vorgesehene Gewebetyp, an dem das Produkt Anwendung finden soll (Type of Tissue/Part of Body) und das Funktionsprinzip des Medizinprodukts (Operating Principle).

 

  • Alle User Interface Characteristics related to safety and potential Use Errors (IEC 62366-1:2021-08; Kapitel 5.2): Sie halten fest, welche Eigenschaften der Nutzeroberfläche riskant für den Nutzer, für Patienten und Dritte sein können. Daraus leiten Sie dann Bedienfehler ab, die während der Nutzung entstehen können.

 

  • Known or forseeable Hazards and Hazardous Situations (IEC 62366-1:2021-08, Kapitel 5.3): Hier halten Sie fest, was Sie beim „Ermitteln bekannter oder vorhersehbarer Gefährdungen und Gefährdungssituationen“ herausgefunden haben.

 

  • Alle Hazard-Related-Use-Scenarios (IEC 62366-1:2021-08, Kapitel 5.4): Sie müssen aus allen identifizierten Gefährdungen und Gefährdungssituationen dann gefährdungsbezogene Nutzungsszenarien (Hazard-Related-Use-Scenarios) ableiten und dokumentieren. Diese enthalten: alle Aufgaben des Szenarios, die Reihenfolge der Aufgaben und den Schweregrad des damit verbundenen Schadens.

 

  • Falls Sie eine summative Usability Evaluation durchführen möchten: Hierfür brauchen Sie nicht nur die Beschreibung des Testplans für die Usability-Tests, z.B. Testziele, Testaufgaben, Testprotokolle und die Testergebnisse (Beschreibung der Ergebnisse aus den Usability-Tests, z.B. quantitativ (z.B. Erfolgsquote) und qualitativ (z.B. Feedback der Benutzer)), sondern auch eine Begründung, warum Sie diese Auswahl an Testszenarien für die summative Evaluation getroffen haben. (vgl. IEC 62366-1:2021-08, Kapitel 5.5)

 

  • User Interface Specification: Hier fordert die IEC drei Dinge, die Sie dokumentieren müssen: 1. Alle testbaren technischen Anforderungen, die für die Nutzeroberfläche relevant sind. 2. Alle Begleitdokumente, die für Ihr Medizinprodukt vorliegen (z. B. Handbücher, Anleitungen, etc.). 3. Sie müssen dokumentieren, ob ein Nutzertraining für Ihr Medizinprodukt notwendig ist. (source: IEC 62366-1:2021-08, Kapitel 5.6)

 

  • User Interface Evaluation Plan (IEC 62366-1:2021-08, Kapitel 5.5): Der User Interface Evaluation Plan ist ein Dokument, das festlegt, wie Sie prüfen werden, ob das Interface Ihres Medizinprodukts Risiken mit sich bringt.

 

  • Designänderungen: Beschreibung der Änderungen am Design des Produkts, die aufgrund der Testergebnisse vorgenommen wurden.

 

  • Bewertung: Bewertung des Produkts hinsichtlich der Usability und Empfehlungen für die Verbesserung der Usability.

 

Weitere Dokumentation: Alle Ergebnisse von möglichen Tests oder Studien einschließlich aller relevanten Dokumente, z.B. Testprotokolle, Änderungen am Design, usw.

 

Was sind die Best Practices zur Erstellung eines Usability Engineering Files?

Achten Sie penibel darauf, den kompletten Usability Engineering Prozess zu dokumentieren. Wir haben es an anderer Stelle schon erwähnt: Was nicht dokumentiert ist, ist nicht passiert. Zumindest für die Benannten Stellen. Auch für die interne Arbeit ist dies sehr wichtig (siehe nächster Punkt).

Stellen Sie sicher, dass alle dokumentierten Inhalte nachvollziehbar sind! Für Benannte Stellen, aber auch für Ihre Kollegen ist es extrem wichtig, dass man alle dokumentierten Inhalte jederzeit nachvollziehen kann. Das kann wertvolle Zeit bei der Dokumentation für Nachfolgeprodukte sparen, aber auch notwendig sein, wenn Sie einmal in einem Rechtsfall nachweisen müssen, dass Sie alle nötigen Maßnahmen zur Bediensicherheit unternommen haben.

Falls Sie eine Studie durchführen: Achten Sie schon bei der Erstellung und Planung darauf, dass die Nutzergruppen nicht nur richtig definiert und dokumentiert sind, sondern auch für Ihre Studie passen. Dieser Punkt gehört streng genommen nicht zum Thema „Usability Engineering File“, spielt jedoch eine wichtige Rolle. Der Tipp an dieser Stelle: Achten Sie also schon bei der Erstellung des UEF darauf, dass Ihre Nutzergruppen richtig repräsentiert sind!

Schenken Sie dem Nachweis darüber, wie potenzielle Nutzungsfehler identifiziert und abgemildert bzw. ausgeschlossen werden, besondere Aufmerksamkeit! Dieser Punkt ist besonders wichtig für die erfolgreiche Zulassung Ihres Medizinprodukts, da hier ein Großteil des Nachweises über die sichere Nutzung Ihres Produkts erfolgt.

Überprüfen Sie Ihre Dokumentation immer, wenn Sie etwas ändern. Denn nur wer seine Dokumentation auf dem Laufenden hält dabei auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft, ist auf der sicheren Seite.

Versuchen Sie das UEF so schlank wie möglich zu halten: Das heißt nicht nur, dass das Usability Engineering File selbst so schlank wie möglich sein soll, sondern auch, dass Sie die benötigten Informationen in anderen Dokumenten unterbringen (wenn möglich), um dann im UEF nur auf diese zu verweisen. So vermeiden Sie Doppelungen und machen sich damit das Up-to-date-Halten der Dokumentation im Nachgang leichter.

 

Wie werden Usability Engineering Files von Benannten Stellen geprüft?

Eine Benannte Stelle prüft das Usability Engineering File im Rahmen der Konformitätsbewertung eines Medizinprodukts. Das geschieht gemäß den Anforderungen der MDR. Dabei wird das Augenmerk auf die folgenden Punkte gelegt:

Vollständigkeit: Enthält das UEF alle im vorherigen Kapitel genannten Informationen und Dokumente, die für die Bewertung der Usability des Medizinprodukts notwendig sind?

Methoden und Ergebnisse: Sind die im Usability Engineering File beschriebenen Methoden zur Bewertung der Usability geeignet? Wurden die Ergebnisse der Evaluierungen ausreichend dokumentiert und richtig interpretiert?

Erfüllung der Anforderungen: Weist das UEF nach, dass die relevanten Anforderungen an die Usability des Medizinprodukts erfüllt wurden? Sie können es sich bereits denken: Dieser Punkt ist besonders wichtig für die Zulassung Ihres Medizinprodukts!

Konsistenz und Freiheit von Widersprüchen: Ist das UEF konsistent? Enthält es keine Widersprüche?

Es wird die Frage geprüft, ob es einen Usability Engineering Prozess gibt: Es geht also nicht nur um die inhaltliche Dokumentation des Prozesses, sondern auch um die Dokumentation des Prozesses als Verfahrensanweisung. Zusätzlich wird geprüft, ob Sie sich an Ihren Prozess gehalten haben.

 

Wie zahlt ein UEF auf die Arbeit des Risikomanagements ein?

Das Usability Engineering File zeigt, wie Sie potenzielle Anwendungsfehler und damit verbundene Risiken identifiziert (und später dann abgeschwächt) haben. Es liefert also einen sehr wichtigen Input für die Risikobewertung des Risikomanagements.

Der Usability Engineering Prozess und der Risikomanagement Prozess sind eng miteinander verbunden. Die beiden Prozesse laufen parallel ab und sind ineinander integriert.

Was liefert das UEF an das Risikomanagement? Informationen darüber, wie Benutzer das Produkt nutzen, welche Probleme oder Schwierigkeiten auftreten können und wie diese behoben werden können. Mithilfe dieser Informationen kann das Risikomanagement dann potenzielle Risiken identifizieren und bewerten.

Was liefert das Risikomanagement für den Usability Engineering Prozess und insbesondere für das Usability Engineering File? Wenn nötig liefert es Feedback und Anforderungen an das UEF, um sicherzustellen, dass die Usability des Produkts in Bezug auf die Risiken angemessen berücksichtigt wird.

 

Was sind die größten Herausforderungen bei der Erstellung eines Usability Engineering Files?

Bei der Erstellung eines Usability Engineering Files können verschiedene Herausforderungen auftreten. Folgende haben wir für Sie identifiziert:

  • Die hohe Komplexität des Usability Engineering Prozesses: Usability Engineering umfasst viele Schritte (einschließlich der Analyse der Benutzeranforderungen, der Definition von Use Cases und der Durchführung von Usability-Tests), die gut geplant und mit Expertise durchgeführt werden müssen. Hier das klare Augenmerk für die richtige Dokumentation zu haben, erfordert Übung und einen Überblick über den Prozess und die Anforderungen der MDR.

 

  • Oft lassen sich Unternehmen oder Produktverantwortliche zu lange Zeit mit der Erstellung der Use Specification: Das führt dann dazu, dass die Nutzergruppe und die Nutzungsumgebung zu unklar definiert sind im schon laufenden Prozess. Die Entwicklung läuft dadurch nicht so zielgerichtet ab, wie sie andernfalls ablaufen würde.

 

  • Ressourcen können schnell die eigenen Kapazitäten überschreiten: Usability Engineering erfordert spezielle Fähigkeiten, Ressourcen und Ausrüstung, die möglicherweise nicht intern verfügbar sind. Es kann schwierig sein, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen.

 

  • Insbesondere die Ressourcen Zeit und Kosten: Die Erstellung des Usability Engineering Files und die Usability Engineering Schritte erfordern viel Zeit und Ressourcen, was zu höheren Kosten führen kann. Insbesondere wenn Sie einen straffen Zeitplan haben.

 

  • Normen und Vorschriften müssen beachtet werden und sind oft komplex zu verstehen: Das UEF muss den Anforderungen der relevanten Normen und Vorschriften entsprechen (was ein gründliches Verständnis dieser Anforderungen erfordert). Die Interpretation der Anforderungen macht die Umsetzung der Anforderungen in der Praxis oft sehr schwierig.

 

  • Notwendige und gut koordinierte Zusammenarbeit: Usability Engineering erfordert oft eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Abteilungen. Dies kann eine Herausforderung darstellen. Insbesondere wenn es um die Integration von Feedback und die Priorisierung von Anforderungen geht.

 

  • Planung und Engagement: Insgesamt erfordert die Erstellung eines Usability Engineering Files viel Planung, Zusammenarbeit und Engagement, um sicherzustellen, dass das Produkt die Bedürfnisse und Anforderungen der Benutzer erfüllt und den Anforderungen der Normen und Vorschriften entspricht.

 

Fazit

Ein Usability Engineering File ist der pragmatischste Weg, alle Anforderungen der MDR bezüglich der Usability nachzuweisen. Dementsprechend sollten Sie der Erstellung besondere Aufmerksamkeit widmen und alle Inhalte liefern und rückverfolgbar dokumentieren.

Ob es sich lohnt, das Usability Engineering File intern oder extern erstellen zu lassen, hängt von Ihrem speziellen Fall ab.

Sie brauchen Hilfe bei Ihrem Usability Engineering File oder der Usability Dokumentation generell? Melden Sie sich gerne über unser Kontaktformular. Wir freuen uns auf Sie.

0 / 5 (0)

Halten Sie sich mit unserem Newsletter auf dem Laufenden

E-Mail *
Hidden
Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Was ist die IEC 62366-1?

Was genau ist die IEC 62366-1? Dieser Frage wollen wir in diesem Artikel auf den Grund gehen. Wir erklären Ihnen schnell und leicht verständlich, was es rund um die Norm zu wissen gibt. Wenn Sie...

mehr lesen