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Wie können Sie die MDR Anforderungen ohne Usability Engineering erfüllen?

Autor: Benjamin Franz

Lesedauer:

Dez 2022

Sie haben ein bereits entwickeltes Medizinprodukt, das ohne Usability Engineering entwickelt wurde und möchten nun wissen, welche Möglichkeiten Sie haben, um trotzdem alle Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR) bezüglich der Usability zu erfüllen? Das ist die Kernfrage, die wir mit diesem Artikel beantworten möchten.

Zudem erfahren Sie, was Sie für die verschiedenen Möglichkeiten qualifiziert und wie diese aussehen können.

 

Einleitung: Das Ziel ist immer ein vollständiges Usability Engineering File

Die MDR fordert von Ihnen einige Punkte, die die Usability Ihres Produkts betreffen. Welche genau das sind, haben wir Ihnen in einem gesonderten Artikel herausgearbeitet: In „Deep Dive: MDR und Usability“ finden Sie alle Passagen der MDR, die mit der Usability Ihres Produkts zu tun haben samt „Übersetzung“, was die jeweilige Passage für Sie bedeutet. Zusammengefasst fordert die MDR von Ihnen die Analyse und die Beherrschung von Risiken in Bezug auf die Nutzung eines Medizinprodukts. Die meisten dieser Anforderungen an die Usability finden sich in den „Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen“ (Anhang 1 der MDR).

Die MDR liefert Ihnen die Anforderungen, stellt aber keine Vorschriften, wie Sie diese umsetzen müssen. Um dann allerdings vor den Benannten Stellen auch überzeugend argumentieren zu können, müssen Sie beweisen, dass alle Anforderungen erfüllt sind und die Zielgruppe Ihr Produkt sicher und gemäß der Zweckbestimmung nutzen kann.

Was Sie also brauchen, ist ein Usability Engineering File, das erwähnte sichere Nutzung gemäß der Zweckbestimmung durch die vorgesehenen Anwender möglich ist.

Ein Usability Engineering File (dt. „Gebrauchtauglichkeitsakte“) ist die Sammlung aller Dokumente, die beweisen, dass Ihr Produkt die Anforderungen an die Usability erfüllt. Ein Artikel, der Ihnen das Usability Engineering File in die Tiefe erklärt, werden wir in den kommenden Monaten veröffentlichen.

Wie können Sie nun aber die MDR Anforderungen erfüllen, wenn Sie kein Usability Engineering gemacht haben? Wir haben drei Optionen für Sie zusammengestellt.

 

Option 1: Ihr Medizinprodukt kann den User Interface of Unknown Provenance Prozess der IEC 62366-1 durchlaufen

Was ist der User Interface of Unknown Provenance Prozess (kurz „UOUP Prozess“)? Der Prozess bietet Ihnen die Möglichkeit, Konformität zur IEC 62366-1 nachzuweisen, auch wenn das Medizinprodukt ohne den in der Norm enthaltenen Usability Engineering Prozess entwickelt wurde. Dabei wird möglichst effizient auf bereits bestehender Dokumentation und bestehenden Daten aufgebaut. Ziel ist auch hier ein (komprimiertes) Usability Engineering File zu generieren. Zudem soll Ihre Risikomanagement-Akte so ergänzt werden, dass sie alle Risiken benennt, die auf die Usability des Produkts zurückzuführen sind.

Aber sind Sie berechtigt, den UOUP Prozess zu nutzen? Die Grundvoraussetzungen, die dafür gegeben sein müssen, sind die Folgenden:

  • Ihr Produkt wurde vor Einführung der Norm 2015 entwickelt und zugelassen
  • Ihr Produkt wurde ohne geeignete Aufzeichnungen nach IEC 62366-1 zugelassen
  • Der Prozess setzt PMS-Daten Ihres Medizinprodukts voraus! (Diese werden dahingehend betrachtet, ob sie auf Usability-Probleme schließen lassen.)

Dabei gilt es Folgendes zu beachten: Wenn Teile des User Interfaces Änderungen unterliegen oder durch neue bzw. geänderte Komponenten betroffen sind, verlieren die Teile, die Änderungen unterliegen, den Status der „unbekannten Herkunft“ und müssen den kompletten Usability Engineering Prozess durchlaufen. Ausführlichere Informationen liefert unser Artikel „Wann können Sie den UOUP Prozess nutzen?“.

Ihr Medizinprodukt kommt für den UOUP Prozess infrage? In unserem „Deep Dive: User Interface of Unknown Provenance“ Artikel finden Sie alle wichtigen Infos über den Prozess und einen kompletten Ablauf der einzelnen Schritte.

 

Option 2: Sie können mit Post Market Surveillance Data argumentieren und eine Rationale erstellen

Wenn Ihr Produkt nicht für den UOUP Prozess infrage kommt, haben Sie eine weitere Möglichkeit, etwas „abzukürzen“, wenn es um die Beweisführung darüber geht, ob Sie die Usability-Anforderungen der MDR erfüllen oder nicht. Hierfür benötigen Sie ebenfalls Post Market Surveillance Daten.

Wie Sie das machen? Sie erstellen eine Rationale auf Basis Ihrer PMS-Daten. Das erspart Ihnen allerdings nur die summative Evaluation. Ein Usability Engineering File muss trotzdem zusammengestellt werden. Die richtige Dokumentation ist hierbei entscheidend. Ein Deep Dive Artikel zur PMS-Datenanalyse folgt.

Was müssen Sie tun? Sie untersuchen die PMS-Daten daraufhin, ob hier Rückschlüsse auf mögliche Gefährdungen durch die Usability des Produkts gezogen werden können. Sollten hierbei keine Usability-bezogenen Gefährdungen zutage gefördert werden, können Sie Ihre fehlende Dokumentation anhand der PMS-Daten erstellen und so gegebenenfalls die summative Usability Evaluation durch die Rationale umgehen. Allerdings bietet Ihnen eine summative Usability Evaluation eine Argumentationsgrundlage, die erfahrungsgemäß sehr viel seltener angefochten wird. Und das aus gutem Grund: Sie ist die effektivste und sicherste Methode, die Bediensicherheit eines Medizinprodukts nachzuweisen.

 

Option 3: Sie können mit summativen Usability Evaluationen oder den PMS-Daten vergleichbarer Produkte argumentieren

Hier ist das Vorgehen dem aus Option 2 sehr ähnlich. Sie erstellen auch hier eine Rationale auf Basis von PMS-Daten. In diesem Fall jedoch von einem vergleichbaren Produkt und nicht Ihrem eigenen. Gibt es Daten aus einer bestehenden summativen Usability Evaluationen eines vergleichbaren Produkts, können Sie auch diese als Grundlage nehmen (anstatt der PMS-Daten oder zusätzlich zu den PMS-Daten). In beiden Fällen können Sie mit diesem Vorgehen auf eine eigene summative Usability Evaluation verzichten.

Auch hier gilt: Ein Usability Engineering File müssen Sie trotzdem erstellen und dabei auf die richtige Dokumentation achten. Die Argumentationsgrundlage gegenüber der Benannten Stelle wäre auch hier durch eine summative Usability Evaluation mit Ihrem eigenen Produkt stärker.

 

Was müssen Sie tun, wenn keiner der oberen Fälle zutrifft?

Trifft keiner der drei oberen Optionen zu, dann müssen Sie ein komplettes Usability Engineering File erstellen und am Ende mit einer abschließenden summativen Usability Evaluation die Bediensicherheit Ihres Medizinprodukts nachweisen.

 

Zukünftig MDR Anforderungen pragmatisch und effizient umsetzen: Der Usability Engineering Prozess nach IEC 62366-1

Sie merken: Um ein Usability Engineering File kommen Sie nicht herum. Der

Usability Engineering Prozess nach IEC 62366-1 ist erfahrungsgemäß der pragmatischste und effizienteste Weg, um die MDR Anforderungen an Medizinprodukte vollständig zu erfüllen und die richtige Dokumentation zu liefern.

Es lohnt sich also, von Beginn an den Usability Engineering Prozess in den Entwicklungsprozess einzubinden. So ersparen Sie sich umständliche Arbeit bei der nachträglichen Erstellung des Usability Engineering Files (bzw. der richtigen Dokumentation).

Sie wollen wissen, wie der Prozess Schritt für Schritt abläuft? Dann schauen Sie gerne in unseren Artikel „Usability für Medizinprodukte nach IEC 62366-1“.

 

Fazit

Um nachzuweisen, dass Sie alle MDR Anforderungen bezüglich der Usability erfüllen, brauchen Sie ein vollständiges Usability Engineering File.

Unter bestimmten Kriterien könnte Ihr Produkt hierfür den verkürzten UOUP Prozess der IEC 62366-1 nutzen. Ist Ihr Produkt dafür nicht qualifiziert, gibt es die Möglichkeit, auf der Basis der Post Market Surveillance Daten Ihres (oder eines vergleichbaren) Medizinprodukts zu argumentieren und mit einer geeigneten Rationale zu beweisen, dass von Ihrem Produkt keine inakzeptablen Risiken durch die Nutzung ausgehen. Letzteres kann allerdings zu ungewollten Diskussionen führen. Eine summative Usability Evaluation ist hier oft der sicherere Weg.

Sie wollen wissen, ob Sie eine der obenstehenden Optionen nutzen können? Gerne sprechen wir mit Ihnen Ihren speziellen Fall durch und schauen gemeinsam, ob Ihr Produkt für eine der Varianten infrage kommt. Zudem helfen wir Ihnen gerne pragmatisch und effizient bei der Zusammenstellung der richtigen Dokumentation und der Erstellung eines Usability Engineering Files (bzw. dem Human Factors Report).

Was ist Ihr konkreter Fall? Kommentieren Sie diesen Beitrag oder melden Sie sich über unser Kontaktformular. Wir freuen uns auf Sie.

 

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