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Ein Medizinprodukt, mehrere Nutzer – was müssen Sie beachten?

Autor: Marvin Kolb

Lesedauer:

Mrz 2023

Oft sind Medizinprodukte oder IVDs für mehrere Nutzergruppen konzipiert. Vor welchen Herausforderungen Medizinprodukte dadurch im User Interface Design stehen und wie diese angegangen werden können, möchten wir Ihnen in diesem Artikel erklären.

Trifft eine (oder treffen mehrere) der folgenden Herausforderungen auf Sie zu?

  • Sie entwickeln ein Medizinprodukt oder IVD, das für mehrere Nutzergruppen zugelassen werden soll?
  • Sie wollen wissen, wie Sie das User Interface gestalten können, damit alle Nutzergruppen das Produkt sicher und einfach gemäß der Zweckbestimmung nutzen können?
  • Ihnen ist es wichtig, die regulatorischen Anforderungen möglichst von Beginn an mitzudenken und Sie wollen wissen, welche davon in diesem speziellen Fall zu beachten sind?
  • Unnötig komplizierte User Interfaces sollen vermieden werden. Aber wie stellen Sie das an, wenn die Aufgaben und Kenntnisse der Nutzergruppen unterschiedlich sind?
  • Sie sind an anschaulichen Beispielen interessiert, die Ihnen zeigen, wie andere Medizinprodukte diese Herausforderungen lösen konnten?

Dann ist dieser Artikel genau der Richtige für Sie! Lassen Sie uns gemeinsam tiefer in das Thema eintauchen und mit konkreten Lösungsansätzen wieder an die Oberfläche kommen.

 

Ein paar Worte zu den Grundlagen

Medizinprodukte müssen laut MDR immer nutzerzentriert gestaltet werden. Die FDA fordert Human Factors Engineering für alle Produkte mit hohem Risiko. Was genau heißt das?

Die MDR liefert in Anhang I, Artikel 5b) die Antwort: Sie müssen „die technischen Kenntnisse, die Erfahrung, die Aus- und Weiterbildung, gegebenenfalls die Anwendungsumgebung sowie die gesundheitliche und körperliche Verfassung der vorgesehenen Anwender berücksichtigen (auf Laien, Fachleute, Behinderte oder sonstige Anwender ausgerichtete Produktauslegung).“

(Source: MDR, Anhang I, Absatz 5b)

Auch die FDA fährt hier einen sehr ähnlichen Kurs. In der Definition von „Human factors engineering” heißt es: “The application of knowledge about human behavior, abilities, limitations, and other characteristics of medical device users to the design of medical devices including mechanical and software driven user interfaces, systems, tasks, user documentation, and user training to enhance and demonstrate safe and effective use. Human factors engineering and usability engineering can be considered to be synonymous.”

(Source: FDA, Kapitel 3.6)

Das deckt sich auch mit der Definition der IEC 62366-1 zu „Usability Engineering“: „Anwendung von Kenntnissen über menschliches Verhalten, Fähigkeiten, Einschränkungen und andere Merkmale in Bezug auf das Design von Medizinprodukten (Software eingeschlossen), Systemen und Aufgaben, um eine adäquate Usability zu erzielen“ (Source: IEC 62366-1:2021-08, 3.17)

Sie sehen also: Im Usability Engineering oder Human Factors Engineering ist der Nutzer ganz klar im Fokus. Ein grundlegendes Verständnis der Fähigkeiten und Einschränkungen ist essenziell für die Produktgestaltung.

Für unsere Grundherausforderung „Ein Medizinprodukt, mehrere Nutzer“ heißt das jetzt: Ein Medizinprodukt und dessen User Interface müssen für jede Nutzergruppe durch die in der Benutzung ein unakzeptables Risiko entstehen könnte designt, getestet und validiert werden.

Um das zu erreichen, müssen Sie also diese Informationen über Ihre Nutzer herausfinden:

  • Was sind die verschiedenen Eigenschaften der Nutzergruppen?
  • Welche Vorerfahrungen und Wissensstände gilt es zu berücksichtigen?
  • Was sind die (ggf. unterschiedlichen) Aufgaben, Prozesse und Abläufe?
  • Bei Produkten die auch für Laien zugelassen werden sollen gilt zusätzlich: Laien und Experten müssen zur selben Interpretation der Ergebnisse kommen – wie kann das sichergestellt werden?

 

Usability Engineering und Human Factors Engineering: Die Nutzergruppen sind immer Teil der Grundlage

Um ein Produkt für mehrere Nutzergruppen zu entwickeln, müssen Sie also diese Nutzergruppen immer im Detail kennen. Folgendes ist dementsprechend nicht verwunderlich: Im Human Factors Engineering nach dem Guidance Document “Applying Human Factors and Usability Engineering to Medical Devices”, als auch in der IEC 62366-1 ist die Definition der vorgesehenen Nutzergruppen immer ein wesentlicher Bestandteil der Grundlagen, auf denen der weitere Prozess aufbaut.

Im Human Factors Engineering heißt der erste Schritt: „Define intended users, use environments and user interface“.

Im Usability Engineering Prozess nach IEC 62366-1 ist das ebenfalls die Grundlage. Hier heißt der Schritt, der allen Weiteren zugrunde liegt: „Prepare Use Specification“. Es wird gefordert, neben der vorgesehenen medizinischen Indikation, der vorgesehenen Nutzungsumgebung, dem vorgesehenen Körperteil oder Gewebetyp, an dem das Produkt Anwendung finden soll, dem Funktionsprinzip des Produkts und den vorgesehenen Patientengruppen auch die vorgesehenen Nutzer zu definieren und zu dokumentieren.

Das geschieht in einem User Profile. In Unterpunkt 3.29 definiert die IEC 62366-1 das benötigte User Profile wie folgt: „Zusammenfassung der mentalen, physischen und demographischen Eigenschaften einer User Group sowie Merkmale, wie zum Beispiel Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die Einfluss auf Design-Entscheidungen haben können“ (Source: IEC 62366-1:2021-08; 3.29)

Wenn Sie also für mehrere Nutzergruppen entwickeln wollen, brauchen Sie also mehrere User Profile. Aber diese sind nur ein Teil der Grundlagen. Sie brauchen ebenfalls ein grundlegendes Verständnis des Nutzungskontexts.

 

Grundlegendes Verständnis des Nutzungskontexts

Wie setzt sich der Nutzungskontext zusammen? Aus diesen Faktoren:

  • Den Benutzern
  • Deren Zielen
  • Deren Aufgaben
  • Deren Ressourcen
  • Der Nutzungsumgebung

Um für mehrere Nutzergruppen zu entwickeln, müssen Sie in einer Nutzungskontextanalyse Folgendes für jede Nutzergruppe herausfinden:

  • Was genau ist die Aufgabe, die der Nutzer ausführt?
  • Welche Informationen und Materialien braucht er für die erfolgreiche Ausführung?
  • Welche inhaltlichen Abläufe gibt es? (Was macht der Nutzer? Wie lange macht er das? Wie oft muss er etwas ausführen?)
  • Wie ist der zeitliche Ablauf der Aufgabe?
  • Was sind die räumlichen Gegebenheiten und wie beeinflussen diese die Ausführung der Aufgabe?
  • Was sind die Motivationen und Bedürfnisse des Nutzers?

Sie tun das bestenfalls durch Feldbeobachtungen und Interviews. Dieses hier gewonnene Wissen ist essenziell, um die User Interfaces für die jeweiligen Nutzergruppen zu gestalten.

Hierbei finden Sie auch heraus, ob Ihre Nutzergruppen sehr ähnliche oder sehr unterschiedliche Aufgaben haben. Wir haben jetzt für beide Fälle Lösungsansätze definiert, in die Ihr User Interface Design bzw. das Konzept Ihres Produkts gehen kann.

 

Lösung 1: Konfigurierbare User Interfaces und Produkte für Nutzergruppen mit gleichen Aufgaben

Haben Ihre Nutzergruppen die gleichen Aufgaben, die sie mit Ihrem Produkt erledigen möchten? Dann sind anpassbare Produkte oder konfigurierbare User Interfaces oft die beste Lösung.

Das bedeutet: Es gibt ein grundlegendes Produkt oder User Interface, das so gestaltet ist, dass es von allen Nutzergruppen bedienbar ist. Allerdings bietet sich die Möglichkeit, das Produkt auf die Anforderungen oder die Ergonomie unterschiedlicher Nutzergruppen anpassen zu lassen.

Ein User Interface könnte beispielsweise hinzuschaltbare Bedienoberflächen für verschiedene Rollen und deren Aufgaben in einem Krankenhaus haben. Ein Pfleger könnte zum Beispiel ein anderes User Interface hinzuschalten wollen, als eine Chefärztin.

Um ein Produkt an die Ergonomie eines Nutzers anzupassen, gibt es mehrere Möglichkeiten. Von elektrisch verstellbaren Pflegebetten bis zur verstellbaren Manschette am Blutdruckmessgerät gibt es hier unzählige Lösungen.

 

Lösung 2: Unterschiedliche User Interfaces für unterschiedliche Nutzergruppen

Haben die Nutzergruppen unterschiedliche Kernaufgaben, braucht jede Nutzergruppe ein auf die eigenen Bedürfnisse und Aufgaben zugeschnittenes User Interface.

Nehmen wir beispielsweise eine Anwendung, die es erlaubt, Arztbesuche komplett digital abzubilden. Dies könnte durch Videotelefonie, Patientenakten und ein Terminbuchungssystem funktionieren. Jetzt haben Ärzte und Patienten sehr unterschiedliche Aufgaben innerhalb dieser Anwendung. Das User Interface der Nutzergruppe „Patienten“ müsste es erlauben, Termine zu buchen und abzusagen, Rezepte und andere Dokumente bei Bedarf herunterzuladen und gegebenenfalls Diagnosen und wichtige Informationen abzurufen. Die Nutzergruppe „Ärzte“ würde unter anderem folgende Möglichkeiten in einem User Interface benötigen: Rezepte auszustellen, eine komplette Einsicht über die Termine haben, Patientenakten einsehen und bearbeiten zu können etc.

Die Anforderungen, Aufgaben, Abläufe und Prozesse sind hier grundverschieden und brauchen jeweils ein auf die Nutzergruppe angepasstes User Interface.

 

Sonderfall: IFUs – Ein Design, das alle Nutzergruppen verstehen

Da unterschiedliche Nutzergruppen keine unterschiedlichen IFUs und Nutzungshinweise bekommen, müssen diese also für alle Nutzergruppen verständlich sein. Das müssen Sie in der summativen Evaluation oder der Human Factors Validation auch nachweisen können.

Der einfachste und anerkannteste Weg, das nachzuweisen, sind summative Nutzertests. Hier ist die Empfehlung, die IFUs formativ zu testen, um auf die abschließende Bewertung vorbereitet zu sein. Eine zweite Empfehlung: Die abschließenden Nutzertests zu IFUs können und sollten vor der restlichen summativen Evaluation durchgeführt werden.

 

Mit Nutzertests schnell und pragmatisch zum sicheren Medizinprodukt – und das für jede Nutzergruppe

Wenn Sie das grundlegende Verständnis von Nutzern und Nutzungskontexten haben und sich für eine der obenstehenden Lösungsmöglichkeiten entschieden haben, testen Sie iterativ Gestaltungslösungen mit echten Nutzern und passen diese dann an das Feedback aus den Nutzertests an. So kommen Sie mit jeder Iteration dem Lösungsansatz näher, der die jeweilige Nutzergruppe dazu befähigt, das Produkt ohne kritische Bedienfehler und effektiv zu nutzen.

Hier sollten Sie offen dafür sein, dass mehrere Nutzergruppen unter Umständen mehrere User Interfaces (bzw. in diesem Stadium Prototypen) brauchen.

Formative Evaluationen sind sowohl von FDA als auch von MDR ein Vorschlag, wie Sie die Produkte nutzerzentriert besser machen können. Gerade bei einem Produkt mit verschiedenen Nutzergruppen ist das Testing wichtig, weil

  1. Alle Aufgaben und Bedürfnisse in die Tiefe verstanden werden müssen
  2. Für jede Nutzergruppe die kritischen Bedienfehler herausgefunden werden müssen
  3. Diese kritischen Bedienfehler dann aus dem Design ausgemerzt werden müssen, damit die abschließende Testung Ihres Produkts positiv verläuft und das Produkt zugelassen werden kann.

Schon in den formativen Evaluationen ist es sehr wichtig, dass Sie Ihre Nutzergruppen sehr genau definiert und richtig rekrutiert haben. Nur so erhalten Sie valide Ergebnisse!

 

Muss jede Nutzergruppe in der summativen Evaluation oder der Human Factors Validation berücksichtigt werden?

Ja, für jedes Hazard-Related-Use-Scenario (also jedes Szenario, das direkt oder indirekt zu einer Gefährdung führen kann) müssen Sie mit der jeweiligen Nutzergruppe in einer abschließenden Evaluation Ihres Produkts die Bediensicherheit nachweisen. Die IEC 62366-1 sagt allerdings: „Mehrere User Profiles können zum Zweck von Usability Tests in einer User Group zusammengefasst werden“. (Source: IEC 62366-1:2021-08; 5.7.1)

Sie müssen hier beachten, dass Sie begründen müssen, „wie die Eigenschaften der Testteilnehmer für die geplanten User Profiles repräsentativ sind“. (Source: IEC 62366-1:2021-08, 5.7.3e).

 

Sie wollen Beispiele?

Jetzt haben wir die anfänglichen Fragestellungen beantwortet. Es folgen Beispiele aus der Welt der Medizinprodukte, die Ihnen zeigen sollen, wie man obenstehende Herausforderungen in der Praxis lösen kann.

Sie brauchen keine Beispiele? Dann springen Sie gerne direkt zu unserem Fazit. Für alle anderen: Viel Spaß mit unseren Ausflügen in verschiedene Produktwelten.

 

Beispiel 1: Die Hörkontaktlinse – Anpassbare Ergonomie

Es gibt viele Medizinprodukte mit flexiblen Parts, die die Ergonomie betreffen. Ein solches Produkt ist die Hörkontaktlinse. Diese ist ein Hörgerät, das vom Hörgeräteakustiker auf die Ergonomie des Patienten angepasst wird und bei Schwerhörigkeit in verschiedenen Schweregraden eingesetzt werden soll. Wir haben hier also ein Beispiel, das zu unserem Lösungsvorschlag 1 passt: Ein Produkt mit Anpassungsmöglichkeiten.

Die Hörkontaktlinse ist so konstruiert, dass sie direkt auf dem Trommelfell haftet. Schwingelement, Mikrofon, Klangprozessor müssen auf den jeweiligen Nutzer abgestimmt werden. Aber auch die Gesamtgröße der Hörkontaktlinse kann passgenau auf den Nutzer zugeschnitten werden.

 

Ein Dummy eines Gehörgangs. Im Hörkanal sitzt ein kleines Gerät: Die Hörkontaktlinse von Auric.

(Source: Screenshot Auric.de)

Beispiel 2: Meine BIGApp – Eine App, mehrere User Interfaces

Die meine BIGApp ermöglicht Kunden der BIG, unbürokratisch und schnell mit der eigenen Krankenkasse in Kontakt zu treten. Hier haben wir einen Fall der oben beschriebenen Lösung 2: Mehrere User Interfaces für mehrere Nutzer. Es gibt die Zugänge für Kunden und die darauf zugeschnittenen User Interfaces und die Zugänge für die Krankenkasse.

Die Aufgaben unterscheiden sich hier natürlich sehr für die genannten Nutzergruppen. Aber auch die sehr groß gefasste Gruppe „Kunden“ besteht ja aus sehr vielen verschiedenen Nutzern mit sehr vielen verschiedenen Kenntnissen und unterschiedlichem technischem Verständnis.

Hier haben wir mit iterativen Nutzertests die Usability und UX des Kunden-User-Interfaces messbar verbessern können und so für alle Nutzer, egal welche technischen Vorkenntnisse diese hatten, eine effektive und einfache Nutzung geschaffen.

Wenn Sie das Projekt interessiert, finden Sie einen detaillierteren Bericht darüber in unserer Case Study zur MeineBIG App.

 

Fazit

Hat Ihr Medizinprodukt mehrere Nutzergruppen, müssen Sie diese tiefgehend kennenlernen, um das Produkt auf die jeweiligen Bedürfnisse zuschneiden zu können und sicherzustellen, dass das Produkt sicher zu bedienen ist. Die IFUs müssen für alle Nutzergruppen gleich verständlich sein.

Wenn es um das User Interface Design geht, dann haben Sie zwei grundlegende Möglichkeiten:

  • Haben die Nutzergruppen die grundlegend gleiche Aufgabe, dann können Sie ein User Interface gestalten, das konfigurierbar ist.
  • Haben Ihre Nutzergruppen unterschiedliche Aufgaben, müssen Sie für jede Nutzergruppe ein eigenes User Interface gestalten, das auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Sie haben Fragen zur Gestaltung Ihres User Interfaces für mehrere Nutzergruppen oder zu den regulatorischen Anforderungen?

Gerne können Sie sich über unser Kontaktformular melden und ein kostenloses Kennenlerngespräch mit uns vereinbaren.

Natürlich können Sie uns Ihre Fragen auch in die Kommentare schreiben. Wir freuen uns sehr auf Ihre Rückmeldung!

 

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