Mehr Infos

IVDR und Usability – gehört das zusammen?

Autor: Benjamin Franz

Lesedauer:

Apr 2022

Müssen Sie für die Zulassung Ihres IVD einen Usability Engineering Prozess nachweisen? Wenn ja, wie können Sie sicherstellen, dass dieser auch vorschriftsmäßig nachgewiesen wird? Was schreibt die IVDR bezüglich der Usability eines IVDs vor? Ab wann treten die Anforderungen der IVDR in Kraft?

Diese Fragen werden wir häufig gefragt. Das ist nur verständlich, denn die IVDR, also die In-vitro-Diagnostic Device Regulation, enthält weder das Wort „Usability“ noch das Wort „Gebrauchstauglichkeit“.

In diesem Artikel liefern wir Ihnen alle Antworten auf die obenstehenden Fragen und zeigen Ihnen die Stellen der IVDR, die Sie kennen müssen, um das Usability Engineering für Ihr IVD auch richtig anzugehen.

 

Was bedeutet die IVDR für Sie?

Für Medizinprodukte gibt es eine Usability Pflicht. Aber wie sieht es mit IVDs aus? Diese sind der IVDR unterworfen.

Die IVDR, der neue Rechtsrahmen der EU für IVDs, trat am 25. Mai 2017 in Kraft. Hier wurde eine fünfjährige Übergangszeit beschlossen, in der Entwickler von der IVDD auf die IVDR umplanen können. Geltungsbeginn der IVDR ist damit der 26. Mai 2022. Erst kürzlich wurden die Übergangsfristen für Produkte, die sich schon auf dem Markt befinden, verlängert. Wollen Sie ein neues Produkt auf den Markt bringen, sind Sie an die IVDR gebunden.

Für Sie als Hersteller von IVDs ändern sich dadurch ein paar grundlegende Dinge gegenüber der IVDD:

  • Anstatt 24 müssen Sie nun 113 Artikel beachten.
  • Die IVDR regelt Entwicklung, Anwendung und auch die Marktüberwachung sowie den Import von IVDs.
  • Sie liefert „allgemeine Sicherheits- und Leistungsanforderungen“, die Sie nachweislich einhalten müssen.
  • Dieser Nachweis passiert über das Konformitätsbewertungsverfahren.

Die IVDR legt nun neue Klassen für IVDs fest, die darüber entscheiden, was Sie als Hersteller für Anforderungen für Ihr IVD erfüllen müssen. Wichtig zu wissen: alle Klassen sind laut IVDR dazu verpflichtet:

  • Die Gebrauchstauglichkeit nach IEC 62366-1 nachzuweisen.
  • Eng mit dem Risikomanagement nach ISO 14971 zu entwickeln.
  • Verifizierung und Validierung des Produkts nachzuweisen.

 

Es gibt nun 4 Klassen für IVDs. Aufsteigend nach Kritikalität:

Klasse A: In diese Klasse fallen alle unkritischen Produkte. Von Produkten der Klasse A geht höchstenfalls ein sehr geringes Risiko aus. Hierunter fallen hauptsächlich Instrumente und Probenbehältnisse für den Laborbedarf. Es wird zwischen sterilen und nicht sterilen Produkten unterschieden.

Klasse B: Mit Klasse B IVDs werden leicht kritische Messwerte erhoben. Fehldiagnosen haben keine lebensbedrohlichen Risiken. Das kann zum Beispiel ein Messgerät für Blutzucker sein.

Klasse C: In Klasse C fallen kritische Messwerte wie ansteckende Krankheiten oder Medikamentendosierungen. Eine Fehldiagnose eines Klasse C IVDs geht mit lebensbedrohlichen Risiken einher. Ein Beispiel wäre ein EGF-Rezeptor bei Lungenkrebs.

Klasse D: Diese Klasse beinhaltet hoch kritische Messwerte. Zum Beispiel zur Bestimmung hochansteckender und potenziell tödlicher Krankheiten. HIV-Tests fallen gehören in die Klasse D. Hier fallen zukünftig auch die SARS-CoV-2-Tests, die in unserem aktuellen Alltag sehr präsent sind, in diese Kategorie.

Je höher die Klasse, desto höher auch die Regulierung des Produkts durch die IVDR. Bei Klasse A (die nicht steril sein müssen) langt eine Konformitätsbewertung mit vorausgegangener technischer Dokumentation.

Zudem unterscheidet die IVDR drei Typen von IVDs:

Patientennahe Tests: Das sind IVDs, die von einem Angestellten im Gesundheitswesen in der Nähe des Patienten oder beim Patienten selbst angewendet werden. Das sind unter anderem IVDs, die in Krankenwägen oder der Notaufnahme verwendet werden.

Eigenanwendung: Hierunter fallen alle IVDs die von Laien genutzt werden. Das kann ein Blutzuckermessgerät, aber auch ein Corona-Selbsttest sein.  

Therapiebegleitende Diagnostika: Auch Companion Diangostica oder CDx genannt. Diese testen oft die Wirkung bestimmter medikamentöser Behandlungen.

Spezialfall Software: Entscheidend ist hier die Zweckbestimmung der Software. Wird sie für medizinische Zwecke eingesetzt, gilt sie als IVD.

 

Ab wann kommen Benannte Stellen ins Spiel?

Die neuen Klassifizierungen gehen auch mit strengeren Anforderungen an die Produkte einher. So müssen alle Produkte ab Klasse B aufsteigend von einer Benannten Stelle geprüft werden, um die Zulassung zu erhalten.

Das ist ein rasanter Anstieg: Eine Studie zeigt, dass die involvierten Benannten Stellen von 7% auf 84% angestiegen sind! (source) Circa 80 % der Produkte benötigten unter der IVDD keine benannte Stelle. Die IVDR führt nun dazu, dass nur ca. 20% der Produkte keine benannte Stelle benötigen werden. (source). Der Bedarf an Usability Engineering für IVD Produkte ist damit also drastisch gestiegen.

 

Was bedeutet das für Sie als IVD Hersteller?

Hersteller müssen in Ihrer technischen Dokumentation neben analytischer Sensitivität, analytischer Spezifität und Richtigkeit und Präzision der Messung noch mehr nachweisen.

Nämlich eine Spezifizierung dessen, was das Produkt leisten soll. Es muss auch nachvollziehbar begründet werden, wie sichergestellt werden soll, dass das Produkt dies auch leistet. Dabei müssen Sie den Ausschluss inakzeptabler Risiken bei der Nutzung nachweisen. Kurz: Sie brauchen eine gute und sichere Usability!

Was also wird indirekt von Ihnen gefordert?

  • Usability Research
  • Usability Engineering
  • Den Nachweis über beides mit einem Usability Engineering File.

Ist Ihr Produkt bereits auf dem Markt langt hier der Nachweis darüber, dass Sie für Ihr Produkt (und gegebenenfalls für vergleichbare Produkte auf dem Markt) eine Fehlerursachenanalyse durchführen und diese mit einem Usability Engineering File nachweisen.

Wenn Sie wissen möchten, wie Sie sich bestmöglich auf das Usability Testing vorbereiten, empfehlen wir Ihnen unseren Artikel „So bereiten Sie sich auf das Usability Testing für IVDs vor„.

 

Welche Übergangsfristen von der IVDD zur IVDR gelten für Sie?

Die Übergangsfristen für Ihr IVD hängen von der jeweiligen Klasse ab:

  • Klasse A (nicht sterile Produkte): hier gibt es keine verlängerte Frist.
  • Klasse A (sterile Produkte): hier haben Sie bis zum Mai 2027 Zeit, von der IVDD auf die IVDR umzurüsten.
  • Klasse B: Auch hier gilt der Mai 2027 als Stichtag.
  • Klasse C: Produkte dieser Kategorie haben eine Frist bis zum Mai 2026.
  • Klasse D: Hier endet die Frist am Mai 2025.

 

An welchen Stellen genau wird nun die Usability eines IVDs durch die IVDR reguliert?

Schauen wir uns nun die entsprechenden Stellen an. Auch wenn das Wort „Gebrauchstauglichkeit“ genauso wenig auftaucht wie das Wort „Usability“ sind die folgenden Punkte allesamt Aufgaben des Usability Engineerings, beziehungsweise des Usability Testings.

 

Anhang 1: Kapitel 1: 5a und b

Hier wird die „Verringerung der durch Anwendungsfehler bedingten Risiken“ angesprochen. Hersteller erhalten hier die folgenden Anforderungen:

  • Verringerung möglicher Risiken durch ergonomische Merkmale des Produkts und der Umgebung, in der das Produkt verwendet werden soll.
  • Entwickler „berücksichtigen die technischen Kenntnisse, die Erfahrung, die Aus- und Weiterbildung, gegebenenfalls die Anwendungsumgebung sowie die gesundheitliche und körperliche Verfassung der vorgesehenen Anwender“

 

Anhang 1: Kapitel 2: 11.1a

Produkte und Herstellungsverfahren müssen so ausgelegt werden, dass ein Infektionsrisiko durch Anwender und Dritte ausgeschlossen werden kann. Kann dies nicht gewährleistet werden, muss nachgewiesen werden, dass das Risiko so gering wie möglich ist. In diesem Zusammenhang müssen IVDs so ausgelegt sein, dass sie „eine leichte und sichere Handhabung erlauben“. Sprich: Das Produkt benötigt eine gute Usability.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 13.7

Hier wird gefordert: Mess-, Kontroll- und Anzeigeeinrichtungen (also Interfaces) „werden so ausgelegt und hergestellt, dass sie mit Blick auf die Zweckbestimmung, die

vorgesehenen Anwender und die Umgebungsbedingungen, unter denen die Produkte verwendet werden sollen, ergonomischen Grundsätzen entsprechen“. Es muss also Usability Research stattfinden, um die Anwendung auf den Anwender und die Umgebungsbedingungen abzustimmen.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 15.3

Hier ist die Rede von Gebrauchsanweisungen für Geräte, die gefährliche oder potenziell gefährliche Strahlung aussenden. Diese Gebrauchsanweisungen sollen sicherstellen, dass Nutzer es schaffen, einen „fehlerhaften Gebrauch zu vermeiden“ und anfallende „installationsbedingte Risiken so weit wie möglich und angemessen zu verringern“. Es muss also im Zuge der Usability Research festgehalten und bewiesen werden, dass Nutzer mithilfe der Gebrauchsanweisung in der Lage sind einen fehlerhaften Gebrauch und installationsbedingte Risiken zu vermeiden.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 16.3

Kapitel 16 setzt sich mit allen IVDs auseinander, die in Bestandteilen aus programmierbaren Elektroniksystemen bestehen oder Produkte in Form einer Software sind. 16.3 fordert für diese Geräte eine Abstimmung spezifischer Eigenschaften des Interfaces (z.B. Größe und Kontrastverhältnis des Bildschirms) auf die externen Faktoren, die auf die Verwendung einwirken (Lichtverhältnisse, Geräuschpegel). All diese Faktoren werden auch bei der Usability Research herausgefunden und im Usability Engineering berücksichtigt. Sprich: Wer Usability Engineering für sein Produkt macht, stellt damit sicher, dass die Eigenschaften des Interfaces auf die Verwendungsumgebungen optimal zugeschnitten sind.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 18.7

Dieser Absatz verlangt von Ihnen, dass Sie Teile Ihres Produkts, die zum Anschluss an Energiequellen gedacht sind, so gestalten, dass risikoreiche Fehler bei der Montage „durch die Auslegung und Konstruktion dieser Teile unmöglich gemacht oder andernfalls durch Hinweise auf den Teilen selbst und/oder auf ihrem Gehäuse verhindert“ werden. Auch hier gilt: Usability Engineering muss hier nachgewiesen werden zur Einhaltung.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 19.1

Unterpunkt 19 von Anhang 1 der IVDR beschäftigt sich mit dem Schutz vor den Risiken durch Produkte, die für die Eigenanwendung oder patientennahe Tests bestimmt sind. In 19.1 sind eine Vielzahl an Anforderungen an Ihr Produkt enthalten, die allesamt im Zuge des Usability Engineering Prozesses gelöst werden.

  • Produkte zur Eigenanwendung oder für patientennahe Tests müssen so ausgelegt sein, dass sie den Fähigkeiten und Möglichkeiten der vorgesehenen Nutzer entsprechend fehlerfrei zu bedienen sind.
  • Auch Auswirkungen von zu erwartenden Schwankungen müssen einbezogen werden.
  • Angaben und Anweisungen zum Produkt müssen leicht verständlich und anwendbar sein. Damit wird erreicht, dass das Ergebnis korrekt interpretiert werden kann. Auch irreführende Angaben müssen vermieden werden.
  • Auch Ausbildung und Qualifikation der Nutzer sowie Erfahrungsstand muss hier einbezogen werden, wenn es um die Angaben und Anweisungen geht.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 19.2

Hier wird gefordert, „dass das Produkt vom vorgesehenen Anwender — erforderlichenfalls nach angemessener Schulung und/oder Aufklärung — in allen Bedienungsphasen sicher und fehlerfrei verwendet werden kann“. Auch die Gefahr einer falschen Handhabung des Produkts oder eine Fehlinterpretation der Ergebnisse soll so gering wie möglich gehalten werden.

Auch das sind Themen, die während des Usability Engineerings geklärt und deren Lösung somit nachgewiesen werden kann.

 

Anhang 1: Kapitel 2: 19.3

In diesem Unterpunkt wird von Ihnen gefordert, dass vorgesehene Anwender Ihres IVDs selbst nachweisen können, ob das Produkt bei Anwendung bestimmungsgemäß arbeitet. Auch eine Warnung an den Nutzer muss das Produkt enthalten, sollte kein gültiges Ergebnis bei der Anwendung erzielt worden sein.

Um nachzuweisen, dass Ihr Produkt dies leisten kann, brauchen Sie Daten von echten Nutzern aus Usability Tests.

 

Anhang 1: Kapitel 3: 20.1

Unterpunkt 20 widmet sich den „Anforderungen an die mit dem Produkt gelieferten Informationen“. 20.1 verlangt von Ihnen:

  • Abstimmung der Kennzeichnungen und Gebrauchsanweisungen auf das jeweilige Produkt.
  • Ebenfalls müssen diese Anweisungen zur Zweckbestimmung des Produkts passen.
  • Auch den technischen Kenntnissen, der Erfahrung, Ausbildung oder Schulung der vorgesehenen Anwender müssen die Anweisungen angepasst sein.
  • „Insbesondere ist die Gebrauchsanweisung so zu verfassen, dass sie von dem vorgesehenen Anwender ohne Schwierigkeiten verstanden wird, und gegebenenfalls mit Zeichnungen und Schaubildern zu ergänzen.“

Dass Sie dies zielführend erfüllt haben können Sie mit Usability Testing nachweisen.

 

Anhang 1: Kapitel 3: 20.4.2

20.4.2 widmet sich in fast 30 Unterpunkten den Informationen, die in der Gebrauchsanleitung enthalten sein müssen. Dass Sie alle diese Unterpunkte erfolgreich umgesetzt haben, können Sie anhand von Usability Engineering & Testing glaubhaft nachweisen.

 

Fazit

Usability und IVDR gehören zusammen, auch wenn das Wort Usability oder Gebrauchstauglichkeit nicht explizit fällt. Die angeführten Unterpunkte zeigen Ihnen, dass Sie um Usability Engineering nicht herumkommen. Mit der richtigen Herangehensweise und dem richtigen Partner können Sie hier aber zielsicher die Anforderungen der IVDR an Ihr In-vitro Produkt umsetzen.

Für Ihre Vorbereitung auf die summative Evaluation nach IVDR haben wir Ihnen hier eine Checkliste samt Erklärungen vorbereitet.

Was ist Ihr konkreter Fall? Kommentieren Sie diesen Beitrag oder melden Sie sich über unser Kontaktformular. Wir freuen uns auf Sie.

 

0 / 5 (0)

Halten Sie sich mit unserem Newsletter auf dem Laufenden

E-Mail *
Dieses Feld wird bei der Anzeige des Formulars ausgeblendet
Dieses Feld dient zur Validierung und sollte nicht verändert werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Wie können Sie die MDR Anforderungen ohne Usability Engineering erfüllen?

Um nachzuweisen, dass Sie alle MDR Anforderungen bezüglich der Usability erfüllen, brauchen Sie ein vollständiges Usability Engineering File. Unter bestimmten Kriterien könnte Ihr Produkt hierfür den verkürzten UOUP Prozess der IEC 62366-1 nutzen. Ist Ihr Produkt dafür nicht qualifiziert, gibt es die Möglichkeit, auf der Basis der Post Market Surveillance Daten Ihres (oder eines vergleichbaren) Medizinprodukts zu argumentieren und mit einer geeigneten Rationale zu beweisen, dass von Ihrem Produkt keine inakzeptablen Risiken durch die Nutzung ausgehen. Letzteres kann allerdings zu ungewollten Diskussionen führen. Eine summative Usability Evaluation ist hier oft der sicherere Weg.

mehr lesen